Beziehungen der Bachs nach Naumburg
Bach in Naumburg
Das Musikleben an der Stadtkirche St. Wenzel in Naumburg empfing seit den 1630er Jahren (also während der politisch schwierigen Phase des Dreißigjährigen Krieges) wichtiges Impulse durch Andreas Unger. An der Leipziger Thomasschule war er Schüler von Johann Hermann Schein gewesen und hatte sich 1630 vergebens um dessen Nachfolge beworben. Auf Zuraten des Leipziger Rats nahm er 1634 den Ruf auf das Naumburger Kantorat an und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1657. Wenige Wochen zuvor, im Juli, hatte er sich nach dem Tod von Tobias Michael erneut auf das vakante Leipziger Thomaskantorat beworben. In seinem Bewerbungsschreiben schilderte er seine musikalischen Tätigkeiten an St. Wenzel, die Kontakte zu Musikern und Instrumentenbauern und gibt Einblicke in seine ebenso umfangreiche wie eindrucksvolle Sammlung an Musikalien und Musikinstrumenten. An „Kunstpfeiffer Instrumenta“ listete er die stattliche Anzahl von acht Posaunen (2. Alt. 4 Tenöre und 2. Baß, „so wol zur quint als zur quart zugebrauchen“), drei Zinken, acht Trompeten („als 5. gemeine, und 3. Zug-Trombetten, deren Invention ich selber angegeben“) auf, gefolgt von acht Geigen („nemlich 3. Discant. 3. Tenöre. 1. Baß. und 1. Discant Viole ti gamba“), zwölf Flöten („nemlich 1. octav. 1. quint. 3. qvart. 3. Discant. 3. Tenöre und 1. Baß“), neun Fagotten oder Dulzianen (zwei in Diskant-, vier in Tenor- und drei in Baßlage), jeweils sieben Krummhörnern und Schryari, einen großen Quart-Bomhart, eine Schalmei, ein Regal und drei Pauken „die ich in die Music selbsten spielen kan, und was mir der liebe Gott künfftig noch weiter beytragen wird“. Im Falle seiner Wahl zum Leipziger Thomaskantor versprach Unger, diese 68 Musikinstrumente mitzubringen. Doch der Leipziger Rat wählte Sebastian Knüpfer zum neuen Thomaskantor und Unger blieb in Naumburg. Wenige Tage vor seinem Tod verfasste er sein Testament, in dem er die reichhaltige Sammlung der Stadtkirche vermachte und im Gegenzug an den Chorstufen der Wenzelskirche begraben werden wollte.
Die Blasinstrumente wie auch die Musikalien kamen allmählich aus der Mode und wanderten in Schränke. Einen Großteil der erhaltenen Musikinstrumente erwarb 1890 oder 1891 die Sammlung alter Musikinstrumente in Berlin für 4.000 Mark. Einige davon sind im Zweiten Weltkrieg beschädigt oder zerstört worden, der Großteil ist jedoch erhalten, darunter die einzige Zugtrompete aus dem 17. Jahrhundert (Kat.-Nr. 639). In seinen Leipziger Kantaten besetzte Johann Sebastian Bach diesen mit „Tromba da tirarsi“ bezeichneten Typ. Das Naumburger Instrument ist auf dem Stürzenkranz mit „Hvns Veit macht zv Naam 1651.“ signiert. In seinem Bewerbungsschreiben behauptete Unger 1657, sie sei seine Erfindung. Da Zugtrompeten seit dem späten Mittelalter auf Gemälden und Graphiken dargestellt sind, regen sich an dieser Behauptung leise Zweifel.
Dessen ungeachtet verhalf Ungers reiches Erbe der Wenzelskirche zu überregionalem Ansehen. Am 12. Juni 1661 bewarb sich unter anderem Christoph Bach, Stadtmusiker in Arnstadt, auf die freie Stelle des Stadtpfeifers und Türmers an St. Wenzel. Aus seinem Bewerbungsschreiben erfahren wir, dass er sich schon zehn Jahre zuvor auf diese Position beworben hatte, damals aber nur wenige Musikinstrumente besaß. Unger hatte ihm zwar seine Unterstützung zugesichert und Bach wollte sich mit einer halben Stelle zufrieden geben, was aber der Naumburger Stadtpfeiferpräfekt Hans Günther ablehnte. Eine zweite Bewerbung im Jahr 1657 verlief ebenfalls erfolglos, sodass er 1661 beteuerte, dass er die Naumburger Stelle auf jeden Fall annehmen wolle, selbst wenn sein Arnstädter Dienstherr ihm die Besoldung um 30 oder gar 40 Taler erhöhen würde. Der Stadtrat entschied auch diesmal gegen Bach und bestallte den Stadtpfeifergesellen Heinrich Alhelm zum neuen Türmer und Stadtpfeifer. Drei Monate später, am 14. September 1661, starb Christoph Bach im Alter von 48 Jahren in Arnstadt.
Von 1695 bis 1705 renovierte und vergrößerte der Orgelbauer Zacharias Thayßner, unterstützt durch seinen Bruder Andreas, die Orgel. Bis 1695 hatte sie ihren Platz an der Nordwand in der großen Nische. Thayßner stellte sie in einem neuen, prächtigen Orgelgehäuse auf der oberen Westempore auf, deren Verzierungen der Bildhauer Göricke schuf. Thayßner hat nicht durchgehend daran gearbeitet, sondern parallel an der Domorgel in Merseburg sowie der Orgel der Kollegienkirche in Jena gearbeitet, an der mit Johann Nikolaus Bach (dem „Jenaer“ Bach) von 1719 bis zu seinem Tod 1753 ein weiteres Mitglied der Bach-Familie wirkte. Organist an der Thayßner-Orgel in Naumburg wurde am 4. Juni 1715 Benedikt Friedrich Theile. Sein Vater Johann Theile war 1646 in Naumburg geboren worden, wirkte als Musiker in Hamburg und Wolfenbüttel und trat 1691 in Merseburgische Dienste. Als der Wenzelsorganist Theile 1733 starb, bewarben sich acht Personen um die Nachfolge, darunter Johann Tobias Krebs, Organist in Buttstädt und von 1710 bis 1717 Schüler Johann Sebastian Bachs in Weimar sowie dessen 19jähriger Sohn Johann Tobias Krebs, der im Bewerbungsschreiben betonte: „ich habe mich auch von Jugend an, theils unter treuer Anweisung meines lieben Vaters in Buttstädt, theils unter der hochzuschätzenden Anführung des weltberühmten Herrn Bachs in Leipzig sieben Jahr und drüber, dieser Wissenschafft gantz allein ergeben […]“. Schließlich zeigte auch Johann Sebastian Bachs zweiter Sohn, der 1714 in Weimar geborene Carl Philipp Emanuel Bach, Interesse an der Stelle des Wenzelsorganisten. Im Bewerbungsschreiben vom 19. August 1733 heißt es: „Der durch den Todt des H. Theilen ledig gewordene Organisten Dienst an der St. Petri u. Pauli Kirche läßt Ew. Magnificence und Hoch-Edelgebohrne Herrlichkeiten itzo darauf denken, wie derselbe durch ein tüchtiges Subjectum wieder besetzt werden möge, giebt mir aber Gelegenheit bey Dieselben mich zu einem Competenten gehorsamst an zu geben […]“. Kurios ist, dass Carl Philipp Emanuel Bach die Wenzelskirche mit der Domkirche St. Peter und Paul verwechselte. Ob dieser Irrtum die Entscheidung des Naumburger Rats zugunsten von Johann Christian Kluge beeinflusste?
In Kluges Amtszeit beauftragte der Rat Johann Sebastian Bach in Leipzig mit einem Orgelgutachten zum Zustand der Thayßner-Orgel. Das Dokument ist verschollen, sodass wir kennen keine Details kennen. Offenbar bereitete aber Bachs Gutachten den Weg für einen Orgelneubau durch Zacharias Hildebrandt. Beide kannten sich von Bachs Orgelprüfung am 2. November 1723 in der Kreuzkirche Störmthal. Diese Orgel besitzt 14 Register auf einem Manual und Pedal und ist bestens erhalten. Nach zähen Verhandlungen mit dem Orgelbauer schloss der Naumburger Rat am 27. August 1743 den Orgelbauvertrag mit Zacharias Hildebrandt. Dieser versprach eine neue Orgel im Thayßner-Gehäuse zu bauen und brauchbare Teile für eine neue Orgel in die Maria-Magdalena-Kirche zu übernehmen. Nach kriegsbedingten Unterbrechungen war das Werk im August 1746 vollendet. Der Rat bestellte Johann Sebastian Bach und Gottfried Silbermann zur Orgelprüfung Ende September nach Naumburg.
Um die Tragweite dieses Entschlusses zu verstehen, müssen wir drei Jahrzehnte zurückblicken. Von November 1713 bis Mai 1722 war Hildebrandt Meisterschüler Silbermanns gewesen und hatte im Lehrvertrag versprochen, nach seinem Ausscheiden aus Silbermanns Werkstatt nicht in Kursachsen als Orgelbauer tätig zu werden. Doch genau dies tat Hildebrandt, als er im August 1722 den Vertrag mit Hilmor Statz von Fullen für die Orgel in Störmthal und im Januar 1724 für die neue Orgel in Liebertwolkwitz (mit 13 Registern) unterzeichnete. Silbermann übergab die Angelegenheit seinem Rechtsbeistand und es entwickelte sich ein erbitterter Streit, in dessen Verlauf sich Hildebrandt sogar an Kurfürst Friedrich August I. („August der Starke“) wandte. Der Kurfürst entschied, dass Hildebrandt in Kursachsen nur Orgelbauten annehmen durfte, wenn sie zuvor durch Silbermann genehmigt worden waren, außerdem war dieser am Erlös zu beteiligen. Johann Sebastian Bach hingegen war von Hildebrandts Kenntnissen und Fähigkeiten überzeugt. Er übertrug ihm die Pflege der Leipziger Orgeln und Cembali, weshalb Hildebrandt mit seiner Familie zeitweise in Leipzig lebte.
Die Naumburger Orgelprüfung vom September 1743 ist das bislang einzige dokumentierte Treffen zwischen Bach und Silbermann. Soweit wir wissen, führte dieses „Gipfeltreffen“ zur Aussöhnung zwischen Silbermann und Hildebrandt und es ist durchaus möglich, dass Bach hier vermittelnd tätig geworden war. Am 10. August 1750 unterzeichneten Silbermann und Hildebrandt einen Vertrag, der Hildebrandt zum Werkführer bei Silbermanns letztem Orgelbau für die katholische Hofkirche zu Dresden (III/47) machte. Während der Arbeiten an dieser Orgel starb Silbermann im Beisein von Zacharias Hildebrandt und seinem Sohn Johann Gottfried am 4. August 1753 in seinem Dresdner Quartier. Bei der Orgelprüfung im September 1746 lobten Bach und Silbermann das von Hildebrandt erbaute Werk, wenngleich sie kleinere Klangkorrekturen forderten, die zu Sommerszeiten bei solch großen Werken nicht ungewöhnlich sind. Organist Kluge war aber unzufrieden und warf den Prüfern mangelnde Kompetenz vor, was zu einem Schlagabtausch mit Silbermann führte. Der Stadtrat legte Kluge 1748 die Kündigung wegen „liderlicher Amtsführung“ nahe. Er wechselte als Hoforganist an die Trost-Orgel nach Altenburg, wo Johann Ludwig Krebs sein Nachfolger wurde.
Auf die freie Stelle an St. Wenzel in Naumburg bewarben sich 1748 sechs Organisten, darunter der in Dresden wirkende Bach-Schüler Johann Friedrich Gräbner und Johann Christoph Altnickol. Bach setzte sich erfolgreich für den aus Schlesien stammenden Altnickol ein, der im Januar 1749 Bachs Tochter Elisabeth Juliana heiratete. Doch schon zehn Jahre später starb Altnickol und seine Witwe kehrte zu ihren Geschwistern nach Leipzig zurück, wo sie am 24. August 1781 starb.
Mit Altnickol finden die Beziehungen der musikalischen Bach-Familie zur Wenzelskirche in Naumburg ihr vorläufiges Ende. Bis heute lebt jedoch die Musik dieser thüringischen Familie auch in Naumburg weiter.